Food Campus Berlin: Ein altbekanntes Thema für Sie, das für viele einen neuen und aufkeimenden Hype bedeutet: Wo sehen die Rolle von „Fermentation“ als Verarbeitungstechnik in der Zukunft unserer Ernährung?
Prof. Dr. Tilo Hühn: Fermentation als Transformation von Molekülen um Rohstoffe für die Ernährung von Lebewesen genussfähig und haltbar zu machen, hat schon sehr lange eine grosse Wirkung. Fermente oder Enzyme von In Zyme, was auf Hefepilze verweist, ermöglichen den Stoffwechsel. Wesentliche Erkenntnisse darüber verdanken wir Wissenschaftlern wie Louis Pasteur und Hermann Müller Thurgau, die schon im 19. Jhd. die Wirkung von Mikroorganismen und Enzymen erforschten.
Neuer sind biotechnologische Prozesse, die durch gezielte genetische Veränderungen von Mikroorganismen bestimmte Moleküle mit besonderer Funktion erzeugen. Diese Prozesse werden als Präzisions-Fermentation bezeichnet. Einer der bedeutendsten Anwendungen in diesem Kontext ist die Herstellung von Labenzym (Chymosin) in einem Bioreaktor, welches zur Dicklegung von Milch zu Käse verwendet wird. Durch solche Praktiken können teilweise landwirtschaftliche Prozesse bis auf die Herstellung von Kulturmedien de-territorialisiert werden. Zum Beispiel ist es möglich komplexe Biomoleküle wie das Protein-Casein als einem wichtigen Bestandteil von Kuhmilch durch Mikroorganismen in einem Bioreaktor herzustellen. Wiederkäuer sind in der Lage Raufutter einer Wiese mit einem vergleichsweise niedrigen Proteingehalt mit Hilfe von Enzymen und Mikroorganismen zu verwerten. Die Vision, so etwas wie Milch, mittels eines Bioreaktors, Kulturmedien und genetisch veränderten Mikroorganismen durch eine Blechkuh ohne Tierleid herzustellen, scheint gerade Wirklichkeit zu werden.
Limitierend dabei sind die Herstellungskosten, die VerbraucherInnenakzeptanz und die Lebensmittelrechtliche Zulassung. Alle Lebensmittel, die in der EU vor dem 15.05.1997 nicht in nennenswerten Mengen konsumiert wurden, unterliegen einer strengen Kontrolle der Lebensmittelsicherheit und einem mehrjährigen Genehmigungsverfahren für Novel Food durch die für den VerbraucherInnenschutz in der EU zuständigen EFSA.
Food Campus Berlin: Mit Wein, Schokolade und Käse gehört die Trinität der hochpreisigen Schweizer Genussgüter zu Ihrem Arbeits-Portfolio. Wo zielt die Innovation und die Forschung bei Ihnen in alle Bevölkerungsschichten?
Prof. Dr. Tilo Hühn: Unsere Beobachtungen im Weinbereich vom Anbau über die Weinbereitung, den Ausbau bis hin zur Vermarktung liefern uns wesentliche Einsichten betreffend der Zirkularität und Vernetzung der einzelnen Faktoren. Wer hier Zusammenhänge verstehen möchte, steht vor der Herausforderung biologische Systeme in ihrer Komplexität zuzulassen und immer wieder neu zu beobachten als einfach nur monokausale Zusammenhänge zu behaupten. Wissenschaft hat etwas Vorläufiges. Manche Erkenntnisse halten sich sehr lange, andere werden von Neuen schnell ersetzt. Diese Praxis hilft uns andere Systeme zu beobachten. Wir respektieren gefundene Lösungen, stellen sie gleichzeitig regelmässig in Frage, um das Neue in die Welt zu lassen. Häufig sind Prozessentwicklungen mit anfänglich höheren Kosten verbunden, deshalb eignen sich besonders Genussmittel als Suchfeld für innovative Lebensmittelherstellungsprozesse. Unsere Erfahrungen übertragen wir auf andere Prozesse der Lebensmittelherstellung, die durch Biotransformation und Prozesstechnik wertvolle Inhaltsstoffe für die menschliche Ernährung bereitstellen. Verminderung von Lebensmittelabfällen durch die Vermeidung / Verminderung von Seitenströmen und die Verwertung dieser Stoffe für die menschliche Ernährung sind wesentliche Bestandteile unserer regenerativen Prozessentwicklungen.
Alle Ströme als Hauptströme zu behandeln ist von Anfang an sozusagen by Design in die Prozesse integriert. Dabei müssen wesentliche Anforderungen zusammengedacht werden. Nachhaltige, sichere, gesunde und genussvolle Lebensmittel zu erzeugen ist nicht genug. Zirkuläre Prozesse sind wesentliche Elemente eines funktionalen Agro-Food-Systems. Leider haben wir bereits so viel an Umwelt und Biodiversität verbraucht, dass dies alleine nicht mehr ausreicht. Wir müssen reparieren wo wir können. Dazu brauchen wir regenerative Prozesse nicht nur in der landwirtschaftlichen Produktion, sondern gleichzeitig in der Herstellung von Lebensmitteln. Davon sollten nicht nur möglichst alle Bevölkerungsschichten, sondern ebenfalls die anderen Lebewesen auf der Erde profitieren.
Food Campus Berlin: Welches Lebensmittel würden Sie, gestrandet auf einer einsamen Insel, anbauen wollen und warum?
Prof. Dr. Tilo Hühn: Das hängt von der Verfügbarkeit anderer Nahrungsquellen und für den Landbau wichtigen Umweltfaktoren ab. Brot, Käse und Wein muss irgendwie her. Fisch kann hoffentlich gefangen werden. Leider sind die Weltmeere als Ökosystem ebenfalls sehr beansprucht.
Food Campus Berlin: Wo sehen Sie die größten Hebel für eine Transformation der weltweiten Ernährung?
Prof. Dr. Tilo Hühn: Die erste grüne Revolution bis zur Entwicklung der Agrikultur hat uns ermöglicht sehr viele Menschen auf diesem Planeten zu ernähren. Die zunehmende Spezialisierung und die Vorstellung biologische Prozesse weitgehend durch Einsatz von Spezialchemikalien im Freiland kontrollieren zu können, kommen an ihre Grenzen. Gleichzeitig werden uns die Grenzen des Wachstums immer deutlicher. Der grösste Hebel für die Transformation ist die Einsicht, insbesondere darin, dass Konsum folgen hat. Nun braucht es eine zweite grüne Revolution, die die Lösungen für die grossen Herausforderungen liefert. Zu diesen Lösungen gehört die Produktion von Lebensmitteln in einem Bioreaktor wie es die Menschen schon lange Zeit bei der Bier- und Weinherstellung tun. Prozesse in einem Bioreaktor lassen sich witterungsunabhängig, wesentlich effizienter, ohne unerwünschte Nebeneffekte wie Umweltkontaminationen und ähnliches kontrollieren. Um die Menschheit zu ernähren und dabei die für die Lebensgemeinschaft auf der Erde notwendige Biodiversität zu erhalten braucht es diese Kulturpraktiken, die wir schon lange anwenden.
Neu ist die Nutzung zur Herstellung von komplexen Stoffen als Nahrungsgrundlagen, die durch molekulares Upcycling in Bioreaktoren entstehen. Vergessen sollten wir dabei nicht, dass es schon immer die mit der Fähigkeit Photosynthese zu betreiben ausgestatteten Pflanzen sind, die auch hier Grundlage des Kulturmediums bei diesen Prozessen sind. Die Nutzung von Algen oder Mikroorganismen wie Methanothrophen Bakterien werden uns helfen weitere Rohstoffe zu erschliessen.
Der Food Campus Berlin wird die notwendige Transformation des Agro-Food-Systems beschleunigen und dabei ein wichtiger Lösungsort als Ökosystem der Ökosysteme sein.
Über Prof. Dr. Tilo Hühn
Tilo Hühn ist FoodArchitect, Erfinder, Entwickler und Umsetzer regenerativer technologischer Prozesse in Unternehmen. Mit seinem Team an der ZHAW in Wädenswil und in Kooperation mit Partnern aus Wissenschaft und Wirtschaft schaffen, verändern, erweitern und reproduzieren sie Informationswege, um funktionelle Lösungen für die Lebensmittelwelt zu erforschen und die gemeinsam gewonnenen Ergebnisse umzusetzen. Dabei sind sie auf dem Weg, die Basis für die Entwicklung von transformativen und regenerativen Nahrungsmittelprozessen zu schaffen. «Ich versuche Unbekanntes zu kultivieren und liebe es, mit anderen Menschen ins Chaos zu tauchen, um neue Kompositionen für Produkte und Möglichkeiten der Transformation in Form von regenerativen Prozessen zu finden. Es geht nicht darum innovativ zu sein oder nicht - es geht um das Wie und die Wirkung.